Wie sagt man auf Saterfriesisch ’88’? Die Frage wird nicht von allen Saterländern gleich beantwortet. Die erste Antwort, die ich erhielt, war sehr deutlich: ‘tachuntachentich’ und sonst nichts. Aufgrund dieser Auskunft habe ich die untenstehende Zeitungskolumne geschrieben. Schnell reagierten jedoch Leser, die meinten, ‘tachuntachentich’ sei eine plattdeutsche Entlehnung, es solle ‘oachtuntachentich’ (Ramsloh) oder ‘aachtuntachentich’ (in den anderen Dörfern) sein. Anscheinend kommen alle drei Formen nebeneinander vor und wissen die Saterländer nicht immer genau, was die anderen Saterländer alles sagen. Wie dem auch sei: dass es Saterfriesen – und Plattdeutschsprecher – gibt, die ‘tachuntachtentich’ sagen, vermittelt uns wichtiges sprachwissenschaftliches Wissen. Daher hier nochmal die Kolumne zu diesem Wort:
Tachuntachentich
Wenn man auf Saterfriesisch folgenderweise zählt: 28, 38, 48, …, dann hört sich das so an: oachtuntwintich, oachtuntrietich, oachtunfjautich, oachtunfieftich, oachtunsäkstich, oachtunsogentich, tachuntachentich, oachtunnjugentich. Eine Zahl tanzt deutlich aus der Reihe und das ist 88. Statt ‘oacht’ findet man dort ‘tach’ am Anfang. Die oberflächliche Erklärung ist einfach: es wurde ein Teil vom Wortteil ‘tachentich’ nach Vorne kopiert. Die weiterführende Frage, die Sprachwissenschaftler interessiert ist dann jedoch: warum tun die Saterfriesen das?
Der wahrscheinliche Grund dafür ist, dass wir alle beim Sprechen schon ein bisschen vorausdenken. Versprecher wie “Gesser und Gabel” kommen viel vor und die lassen sich nur so erklären, dass man beim Aussprechen des ersten Wortes schon an das zweite denkt. Dieser Gedanke stört ab und zu das, was wir in dem Moment sagen.
Im Deutschen verdanken wir dieser Art von Störung den Umlaut: das Wort “dünn” klang im Mittelalter ungefähr wie “dunni” oder “dunnü”. Der letzte Laut wurde nach Vorne kopiert. (Ich vereinfache die Entwicklung jetzt ein wenig). In der neuen Position lebt er weiter, während er am Ende langsam verschwand.
Auch Wörter wie ‘Wespe’ (aus früherem ‘ Wapso’), Bezeichnungen wie ‘Kuddelmuddel’ (aus ‘Koddelmuddel’) und Namen wie ‘Kirsten’ (aus ‘Kristin’) verdanken wir Menschen, die vor vielen Jahrhunderten diesen Sprachfehler gemacht haben.
Dass dieses Voraus-denken-und-nach-Vorne-kopieren tatsächlich vorkommt, ist eine sehr starke Vermutung under Sprachwissenschaftlern. Das Saterfriesische bietet mit “tachuntachentich” einen weiteren Beweis für die Richtigkeit der Hypothese.
Dieses Verständnis des Sprachprozesses hat in vielen Bereichen des Lebens einen praktischen Nutzen, zum Beispiel in der Entwicklung von Sprachtherapien für Menschen, die Gehirnschaden erlitten haben und dadurch nicht mehr gut sprechen können, für Fremdsprachendidaktik und für das Verständnis von Veränderungen im Gehirn beim älter werden.
Peter Hannemann zegt
Was den Namen “Kirsten” betrifft, dachte ich immer im skandinavischen Sprachraum. “Kirsten” in Dänemark und Norwegen, “Kerstin” in Schweden – auch hier gibt es diesen “Dreher”, aber dan mit “E” und “I”.