Rotes Partizip? (W. Hagens, PD) |
Ist Introspektion des Teufels, oder ist es die einzige Art, richtige Sprachwissenschaft zu machen? Diese Entscheidung möchten wir hier in unserem Blog auf keinen Fall treffen. Ab und zu entschließe ich mich aber dazu, mich selbst zu introspizieren. Und wie ich so in meinen Sprachfertigkeiten nachschaue, lässt sich der Dialekt meist schwer unterdrücken.
Die letzte Introspektion, an einem verregneten Donnerstagabend, brachte Erstaunliches über die niederländisch-saarländische* Syntax zutage.
Im Niederländischen unterscheidet man, das lernen recht schnell auch Anfänger, zwischen der sogenannten groene und rode werkwoordsvolgorde. Kommen in einem Nebensatz mehrere Verben vor, steht bei der “roten” Reihenfolge zuerst die konjugierte Form und danach das Partizip. Dies ist vor allem bei Hilfsverben wie hebben der Fall, kann aber auch bei Modalverben auftreten:
Dit is het boek dat hij heeft geschreven.
Ik weet niet wat ik moet doen.
Bei der “grünen” Reihenfolge steht wie im Deutschen zuerst das Partizip bzw. der Infinitiv, dann das konjugierte Verb:
Dit is het book dat hij geschreven heeft.
Ik weet niet wat ik doen moet.
Während geschreven heeft recht üblich ist, klingt die letzte grüne Form doen moet mit dem Modalverb am Ende sehr deutsch. Sie ist im Niederländischen möglich, aber nicht allgemein verbreitet, sondern eher dialektal (im Nordosten), oder sie geht mit einer besonders eindringlichen Bedeutung und Intonation einher.
Die Bezeichnungen als rot und grün sind inzwischen fast historisch und entstanden eigentlich nur durch verschiedene Farben auf Dialektkarten. Inzwischen haben sich die Bezeichnungen verselbständigt, und man sollte die Farbsymbolik keineswegs missverstehen: Rot und grün stehen nicht für verboten und erlaubt oder für falsch und richtig. Beide Möglichkeiten sind korrekt und man hat die Wahl, sich für eine Lieblingsfarbe zu entscheiden.
Das ist ein großes Glück für mich als Dialektsprecher, denn meine Verbstellung ist manchmal auch rot. Ein Beispielsatz:
Hij vraagt of hij mag komen. (NL)
Er fròòt, ob er derf komme. (Saarländisch)
*Er fragt, ob er darf kommen. (Standarddt.)
Der deutsche Standard lässt eine derartige Konstruktion nicht zu. Im Saarländischen ist es die ältere, basilektale Variante. Solche Äußerungen höre ich vor allem in der Generation meiner Eltern und aufwärts, aber auch mir fallen sie ohne nachzudenken gelegentlich aus dem Mund.
Ganz unabhängig von roten oder grünen Sätzen gibt es Übereinstimmungen zwischen Saarländisch und Niederländisch in Konstruktionen mir drei Verben, sobald eines davon ein Modalverb ist:
Hij vroeg of hij ook had mogen komen. (NL)
Er fròòt, ob er aach hätt derfe komme. (Saarländisch)
*Er fragt, ob er auch hätte dürfen kommen. (Standarddt.)
In Sätzen wie diesem kennt das Standarddeutsche mit Konstruktionen wie “hätte kommen dürfen” eine recht verwickelte Umstellung im Satzbau, um die sich Saarländisch und Niederländisch nicht scheren. Damit ist es aber noch nicht getan, denn auch im Niederländischen gibt es natürlich neben den roten und grünen Sätzen noch dialektale Variation. Die niederländischen und deutschen Dialekte gehen im Verhältnis zu den Standardformen dabei interessante Allianzen ein. Ein Beispiel mit einem Vollverb im Partizip, einem Hilfsverb und einem Modalverb:
Ik geloof dat hij het gezien moet hebben. (NL, groene volgorde)
Ik geloof dat hij het moet hebben gezien. (NL, rode volgorde)
Ik geloof dat hij het gezien hebben moet. (NL, in Friesland möglich)
Ich glaube, dass er es gesehen haben muss. (Standarddt.)
Ik geloof dat hij het moet gezien hebben. (NL, in Flandern möglich)
Ich glaab, dass der das muss gesiehn hann. (Saarländisch)
Hier steht das Standardniederländische plötzlich alleine da, egal ob rot oder grün. Die Friesen halten es eher wie die Deutschen, während die Saarländer es den Belgiern nachtun. Letztendlich kommt es also im Saarländischen nicht immer nur auf die rote oder grüne Reihenfolge an. Man könnte eher sagen: Saarländische Modalverben sind “rote Verben”, die eine rote Satzstellung ermöglichen. Alle anderen Verben sind wie im Standarddeutschen “grien” (im intensiven Dialekt hat das Saarländische kein [y]) und manchmal sind sie sogar belgisch-bunt. In standardnäheren Kontexten und bei vielen jüngeren Sprechern ist die niederländisch-typische, rote Variante inzwischen sowieso selten geworden. Sie sprechen durchweg grün. Macht aber nichts, solange wir mit Wandel und Dialekten weiterhin ein schönes, buntes Sprachspektrum zu hören bekommen.
*Abgesehen davon, dass es “das Saarländische” nicht gibt (darüber klärt z.B. Wikipedia auf), gibt es das hier beschriebene Phänomen sicher auch in anderen Dialekten. Aber dann wäre es ja keine Introspektion mehr. In meinem Fall, um ganz präzise zu sein, handelt es sich um das saarpfälzische Rheinfränkische.
Marcel Plaatsman zegt
Belgisch-bunt sind auch die Luxemburger Verben, deren Reihenfolge die gleiche ist, als in den gegebenen Beispielen. Da die Luxemburger ihre Sprache stets mehr als eine Standardsprache verwenden, werden Sie sich bei folgenden Introspektionen natürlich auch für diese Sprache entscheiden können. Auch auf [y] könnte man dort problemlos verzichten.
Philipp Krämer zegt
Für das Luxemburgische entscheide ich mich jederzeit gern! Zum Beispiel in manchen früheren Blogs. Hardliner würden das dann vermutlich nicht mehr echte "Introspektion" nennen, weil ich kein luxemburgischer Muttersprachler bin (aber durch die Dialektnähe durchaus Zugang zum Luxemburgischen habe).
Die Faszination des Luxemburgischen steht völlig außer Frage, da kann ich nur zustimmen.